Vom „Reinmenschlichen“ zum „Wahrsager“
Kunst heute in der Nachfolge von Richard Wagner
Die Post-Musik vor dem Hintergrund
Richard Wagners Theorien 
Des Manifestes erster Teil

Kapiel 3: Kritik an Wagners Theorie

Kommen wir jetzt kurz zum Ausgangspunkt dieses Aufsatzes zurück und erinnern daran, daß Richard Wagners Theorie uns in einem ersten Schritt bei der Abfassung unserer eigener Theorie verhelfen soll.

Was lag näher, als bei Wagner anzuknüpfen? Er ist von seiner Mentalität und seinem Anspruch her ein echter Wesensverwandter. Wagner ist weit genug gegangen, um für uns als Grundlage und Vorläufer geeignet zu sein. Wir werden es jedoch nicht versäumen, in der Praxis einen ganz anderen Weg zu gehen und unsere Theorie später ohne Bezug auf Wagner darzulegen.

Wir kommen jetzt zur Kritik an der Wagner’schen Theorie, genauer gesagt zur Bilanzierung. Wagner will sein Publikum tief beeindrucken, und dies mit dem Ziel, auf die Lebensverhältnisse der Konsumenten einzuwirken, auf daß diese „menschlicher“ würden.

Ist diese Theorie „stichhaltig“ (eine seiner Lieblingsvokabeln)? Stimmt sie überhaupt? Kann sie überhaupt aufgehen? Was haben wir von Wagner zu lernen?

Was wollen wir? Was wollen wir anders machen als Wagner? Wollen wir „weiter gehen“ als Wagner? Inwiefern? Worin? Was können und wollen wir, was nicht? 

Bei aller tatsächlicher Wirkung, die Wagners Musik hat, und obwohl diese Musik in der Tat auch lebensverändernde Entscheidungen auslösen kann (wohl eher macht sie freilich süchtig) – aus der Darstellung der Wagner’schen Weltanschauung und Ästhetik drängt sich die Frage auf, ob es sein kann, daß Wagner Leben und Kunst verwechselt? Es ist auffallend, daß er auf der Bühne das Leben darstellen, es auf die Bühne hinaufholen will. Er möchte die Figuren so lebendig wie möglich darstellen, sie quasi leben lassen – dabei liegt es doch auf der Hand, daß sie dies nicht tun, sondern daß sie Darstellungen sind.

Ohne Frage ist Wagners Musik erstaunlich, faszinierend und auch ergreifend – erschüttert sie aber den Hörer in dem Maße, daß sein „Charakterpanzer“ (Wilhelm Reich) quasi eingeschmolzen wird, auf daß sein „Reinmenschliches“ zu Tage tritt? Hat Wagner dieses sein Ziel erreicht?  

Wagner gibt im Grunde eine Handlungsanweisung für denjenigen, der sein „Reinmenschliches“ wiederfinden und die Entfremdung rückgängig machen möchte. Er möchte mit der künstlerischen Umsetzung von Lebensäußerungen zeigen, wie es geht, wenn man echt sein will. In seiner Kunst kommt der Wunsch zum Ausdruck, unentfremdet zu sein: Wagner träumt im Grunde davon, wie es wäre, ganz unwillkürlich zu sein. Die Sänger-Schauspieler sollen etwas „Unwillkürliches“ darstellen – das für sie in der Partitur genau vorgeschrieben ist! Was wir hören, ist eindeutig nicht „unwillkürlich“.

Selbst die bereits erwähnten Kundry-Schreie aus dem Parsifal sind in den verschiedenen Inszenierungen sehr ähnlich. Die Art Schrei – immerhin ist der Schrei der Inbegriff des Unwillkürlichen in der stimmlichen Artikulation des Menschen – ist also in der Partitur genau vorgeschrieben.

Wie sehr Wagner Leben und Kunst durcheinanderbringt oder stets auf der Ebene der Kunst bleibt, wo er angeblich ins Leben hineinwirken will, das verrät er selbst an einer Stelle, die Martin Gregor-Dellin aus der Schrift „Oper und Drama“ referiert: „Passionsmusik, Oratorien und Oper seien Vorstufen des Kunstwerks der Zukunft. (…) Auch die einsame Dichtkunst, die absolute Dichtung sozusagen, sei nur ein Produkt kranker Zeiten. Der gesunde Mensch beschreibe und sinne nicht, was er will und liebt, das heißt, er schreibe keine Romane und Gedichte, sondern er stelle, was er wolle und liebe, dar: im Drama. Der Dichter werde erst Mensch im Darsteller.“[1] (kursiv von mir, P.P.)

In gesunden Zeiten gäbe es nur das „Gesamtkunstwerk“ (die vollständige, d.h. vokale, szenische usw. Darstellung der Wirklichkeit). Warum sollten aber „gesunde“ (also unentfremdete) Menschen etwas oder sich selber, und dann noch in einer Gesamtheit, darstellen? Für Wagner selbst war doch die Kunst nur Mittel zum Zweck (emotionaler Anstoß zur Veränderung des Lebens) – wenn der Zweck erfüllt sein würde, wozu soll dann noch das Mittel verabreicht werden? Der Mensch sei dann „gesund“, wenn er „Darsteller“ dessen sei, was er liebe und wolle – und Darsteller ist man tatsächlich nicht im Leben, sondern in einem Drama.

Da kann das Leben im Drama dann noch so ganz, so total, so sehr mittels eines „Gesamtkunstwerks“ dargestellt werden: es nützt alles nichts. Auf das Bestreben nach Totalität – „Kunst-Hegelianismus“ – als Lebensersatzhandlung werden wir im nächsten Kapitel genauer eingehen.

Sein weltanschauliches Ziel – das Reinmenschliche, und zwar in der Wirklichkeit – verdampft bei ihm zu seiner Darstellung auf der Bühne. Im wirklichen Leben bleibt mehr oder weniger alles beim Alten. Und der pädagogische Anspruch, den Wagner bezüglich der individuellen Befreiung hat, der bleibt vollständig uneingelöst.

„Willkürlichkeit“ und einstudierte, vermeintliche Willkürlichkeit, dieser krasse Widerspruch in der Ästhetik hatte seine Entsprechung auf der Ebene des sozialrevolutionären Anspruchs. Bei Martin Gregor-Dellin heißt es sarkastisch: „Die Oberklasse des Reichs sah das einzige sozialistische Kunstwerk in Deutschland vor Anbruch des Naturalismus – und war entzückt.“[2] Und bei Udo Bermbach: „Gewiss waren all diese Festspielbesucher nicht jene ‚Menschen der Revolution‘, denen Wagner ursprünglich mit dem Ring den ‚Sinn der Revolution‘, erklären wollte, sondern ein politisch eher konservativ eingestelltes Publikum. Man war gekommen, um an einem nationalen Spektakel teilzuhaben; um einen Komponisten zu erleben, der revolutionär gewesen und mit einem verrückten König befreundet war; einen Ehebrecher und Schuldenmacher, der den Staat und die Gesellschaft herausgefordert hatte und noch immer durch eigenwillige Ansichten herausforderte; einen Größenwahnsinnigen, der ein Festspielhaus ausschließlich für eigene Werke errichten ließ, gegen alle Widerstände und überdies in einem Provinznest, in das man aus freien Stücken niemals gefahren wäre.“[3]

Eine kolossale Diskrepanz und Widersprüchlichkeit auf allen Ebenen zwischen Theorie und Praxis! Wirklichkeit und Traum gehen bei Wagner eindeutig getrennte Wege!

Doch was ist mit Wagners großartiger Kunst? Woher kommt die? Bleibt sie bestehen? Was ist das eigentlich Faszinierende an ihr? Entsteht sie mit und wegen, oder trotz der Theorie? Was geschieht wirklich beim Hören der Musik und beim Verfolgen des Dramas? Eine von Wagner unabhängige Kunsttheorie wird die Antworten geben müssen. Es muß die ewige Frage beantwortet werden, was überhaupt Kunst sei, warum der Mensch im Unterschied zum Tier in so hohem Maße Kunst produziert und konsumiert.

Vorab als Exkurs: Der Künstler will einfach nur an das tiefe Erleben, das Fühlen des Lebens, wie es das Tier in uns noch kannte, erinnern und es nicht sterben lassen. Der Künstler will in uns wachrufen, was eigentlich das Leben ist, war, hätte sein müssen und was es heute sein müßte. Dieses Erinnern und wachrufen muß den mehr oder weniger abgetöteten Menschen stark beeindrucken. Dem Künstler muß das nicht bewußt sein und ist es auch in den allermeisten Fällen nicht bewußt; er fühlt in sich die Möglichkeit von mehr Erleben als im gewöhnlichen Alltag, er fühlt in sich die andere Dimension, und dann will er schlicht und einfach auf die eine oder andere Art Eindruck schinden. Kunst ist das, was Eindruck macht – fern ab von allen, pädagogischen und anderen aufgesetzten und oberflächlichen Motiven. Eindruck machen heißt nichts anderes als: Es ist nicht so, wie ihr denkt – es ist anders, viel tiefer; es gibt noch ganz andere Dinge; Ihr habt keine Ahnung, was in Euch schlummert. Und genau das sucht der Konsument in der Kunst: er will mehr Wirklichkeit fühlen.

Deswegen ist die Kunst so ungemein wichtig und von so hohem Stellenwert in der menschlichen Gesellschaft. Die Menschen fühlen sich nicht als wirklich und echt, sie sind nicht mehr erlebnisfähig und von ihrer eigenen Tiefe abgeschnitten. Der Künstler ist von viel größerer Bedeutung als etwa der Sozialrevolutionär oder gar der Politiker. Richard Wagner war ein großer Künstler; allein mit seiner Kunst hat er in großartiger Weise an jene genannte Möglichkeit erinnert.

Dagegen war der Sozialrevolutionär Wagner von geringer Bedeutung – und ist zu recht auch mehr oder weniger vergessen. Ins Soziale werden wir ihm – um unserer Abgrenzung von Wagners Theorie etwas vorzugreifen – nicht folgen. Auf der anderen Seite werden wir aber – die wir sehr wohl an ihn als Künstler anknüpfen – noch radikaler sein als er, wenngleich mit ganz anderen Mitteln.

 

Manifest, Teil 4

 

[1] „Oper und Drama“, zit. aus: Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 330

[2] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980,S. 727

[3] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 135

 

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