Vom „Reinmenschlichen“ zum „Wahrsager“
Kunst heute in der Nachfolge von Richard Wagner
Die Post-Musik vor dem Hintergrund Richard Wagners Theorien
 
Des Manifestes erster Teil

Kapitel 1: Wagners weltanschauliches Ideal: der Zweck seiner Kunst 

Es gäbe verschiedene theoretische Herangehensweisen an das, was wir tun. Da wir uns aber im Moment mit Richard Wagner befassen – dem großen Avantgardisten des 19. Jahrhunderts –, so liegt es nahe, unsere Theorie in einer Sprache abzufassen, die wir Wagners Theorie entnehmen. Unsere Theorie aus anderen Blickwinkeln, in anderen Sprachen darzulegen, bleibt der nahen Zukunft vorbehalten.

Sehen wir uns zunächst an, was Richard Wagners Ziel, was der Zweck seine Kunstwerke war, worin er den Sinn seines Schaffens sah. Dafür müssen wir uns aber zunächst die seinem künstlerischen Schaffen zugrundeliegende „Weltanschauung“ betrachten:

Der zentrale Begriff in Wagners Weltanschauung, seiner politischen Philosophie und daraus übergehend in seine Ästhetik ist das „Reinmenschliche“. Das ist die innere Substanz des individuellen Menschen als unmittelbare und ungebremste Erscheinung der Natur und des Kosmos. Diese sieht er im Konflikt mit den Einrichtungen und der Moral des Menschen. Der Mensch ist also das Ergebnis des Reinmenschlichen und des Widernatürlichen, steht im Konflikt aus diesen beiden. Wagner sah das „Reinmenschliche“ verlorengegangen und von der Zivilisation aufgerieben. In einigen seiner Schriften datiert er diesen Verlust auf die Zeit des Untergangs der griechischen Kultur.

Die Ursachen für den erbärmlichen Zustand des zivilisierten Menschen, der von seiner eigenen Natur entfremdet ist, und diesen Zustand selbst beschreibt Wagner so: „Nicht unsre klimatische Natur hat die übermütig kräftigen Völker des Nordens, die einst die römische Welt zertrümmerten, zu knechtischen, stumpfsinnigen, blödblickenden, schwachnervigen, häßlichen und unsauberen Menschenkrüppeln herabgebracht, – nicht sie hat aus den uns unerkennbaren, frohen, tatenlustigen, selbstvertrauenden Heldengeschlechtern unsre hypochondrischen, feigen und kriechenden Staatsbürgerschaften gemacht, – nicht sie hat aus dem gesundheitsstrahlenden Germanen unsern skrophulösen, aus Haut und Knochen gewebten Leineweber, aus jenem Siegfried einen Gottlieb, aus Speerschwingern Dütendreher, Hofräte und Herrjesusmänner zustande gebracht, – sondern der Ruhm dieses glorreichen Werkes gehört unsrer pfäffischen Pandektenzivilisation mit all‘ ihren herrlichen Resultaten, unter denen, neben unsrer Industrie, auch unsre unwürdige, Herz und Geist verkümmernde Kunst ihren Ehrenplatz einnimmt, und welche schnurgerade aus jener, unsrer Natur ganz fremden Zivilisation, nicht aber aus der Notwendigkeit dieser Natur herzuleiten sind.“[1]

Daß das Menschliche schon im antiken Griechenland nicht mehr rein war und wir noch viel weiter zurückgehen müssen, soll an dieser Stelle nur angedeutet werden. Doch insbesondere im „Ring des Nibelungen“ und einigen Schriften geht Wagner schon selbst hinter das Griechentum zurück.[2] Der vorzügliche Wagner-Experte und -Biograph Martin Gregor-Dellin schreibt dazu: „Die Schrift über ‚Kunst und Revolution‘ feiert aber nicht nur das griechische Drama und das Zusammenwirken der Künste in einer einzigen menschlichen Gebärde des Ausdrucks und beklagt den Verlust, sondern verrät auch, daß Wagner dabei ein sozialpolitisches Ideal der vorgeschichtlichen Urgemeinschaft im Sinn hatte, das sich in der griechischen Polis nicht mehr vollkommen verwirklichte, weshalb sie unterging.“[3] Das wollen wir an dieser Stelle noch nicht vertiefen, nennen lediglich als Stichwort die Pelasger, eines jener matriarchal, also natürlich organisierten Völker, aus dem sich die griechische Kultur entwickelte – oder besser gesagt: die vom Griechentum zerstört wurden.

Wagner sah das Reinmenschliche auf der Strecke geblieben, stark beschädigt, wenn nicht zermalmt durch die Widernatürlichkeit der menschlichen Zivilisation. Was das genau bedeutet und was sich im Menschen tatsächlich abspielt, wenn er seine Natürlichkeit aufgeben muß und das Reine verliert, auch das werden wir später erörtern. Wagner machte es sich noch zu leicht, indem er diesen zerstörerischen Vorgang einer „Zivilisation“ in die Schuhe schob. Da er so mechanisch dachte, war es auch zwangsläufig, daß er auf die Barrikaden stieg, anstatt den wirklichen Ursachen der Entfremdung nachzugehen, wie es der frühe Karl Marx und vor allem Max Stirner zur Wagners Zeit unternahmen.

Wagners Blick richtete sich anfangs eher nach außen, auf die gesellschaftlichen Bedingungen: Im Abschnitt „Anarchie“ seiner Schrift „Das Künstlertum des Zukunft“ heißt es: „Freiheit heißt: keine Herrschaft über uns dulden, die gegen unser Wesen, unser Wissen und Wollen ist. Setzen wir uns aus freien Stücken nun aber eine Herrschaft, die nichts anderes gebietet, als das, was wir wissen und wollen, so ist sie überflüssig und unvernünftig. […] Eine Herrschaft dulden, von der wir aber annehmen, daß sie das Richtige nicht weiß und will, ist knechtisch.“[4]

Wie sehr Wagner glaubte, durch Veränderungen oder gar Abschaffung des Staates dem „Reinmenschlichen“ zu seinem Recht verhelfen zu können, und wie er das Innere und Äußere, das Individuelle und das Soziale verzahnt sah, dazu erneut Martin Gregor-Dellin: „Nach der Exemplifizierung der Ödipus-Tragödie und Antigones Widerstand gegen den Staat heißt es: Der Untergang des Staates könne vernünftigerweise nichts andres bedeuten als ‚das sich verwirklichende religiöse Bewußtsein der Gesellschaft von ihrem rein menschlichen Wesen.‘ Und: ‚In der freien Selbstbestimmung der Individualität liegt daher der Grund der gesellschaftlichen Religion der Zukunft.‘ Das heißt übersetzt: Die Gesellschaft als Ganzes verwirklicht sich nach den (anarchistischen) VorstelIungen Wagners in der Freiheit jedes ihrer Glieder.“[5]

Das ging bei Wagner bis zu Überlegungen zur nachrevolutionären Zeit und zu neuen sozialen Strukturen. Dazu ein weiterer Wagnerologe, Udo Bermbach: „Die visionäre Kraft Wagners, Kunst und Leben zusammenzudenken, gipfelt am Ende von Kunstwerk der Zukunft in einem überraschenden Vorschlag. So wie die zukünftige Kunst auf wechselnde Bedürfnisse des Menschen eingehen soll, so soll die zukünftige Gemeinschaft auf wechselnden ‚freien Vereinigungen der Zukunft‘ gegründet werden. Wagner entwirft, dem anarchistischen Organisationsdenken entlehnt, das Prinzip eines sich ständig verändernden sozialen und politischen Netzwerks menschlicher Selbstorganisation, Gegenmodell einer feststehenden staatlichen Ämterhierarchie. ‚Der starren, nur durch äußeren Zwang erhaltenen, staatlichen Vereinigung unserer Zeit gegenüber, werden diese freien Vereinigungen der Zukunft in ihrem flüssigen Wechsel bald in ungemeiner Ausdehnung, bald in feinster naher Gliederung das zukünftige menschliche Leben selbst darstellen, dem der rastlose Wechsel mannigfaltigster Individualitäten unerschöpflich reichen Reiz gewährt.‘ Hier soll die Zukunft des Menschen in Netzwerken organisiert werden, die sowohl das Politische, das Soziale als auch das Künstlerische umfassen.“[6]

Das Äußere aber – das Soziale und Politische – soll der Katalysator der inneren, individual-psychischen Befreiung sein. Das wird im folgenden noch sehr wichtig und Anlaß zur Kritik werden. Zitat Udo Bermbach: „Die Revolution muss eine grundsätzliche Wende herbeiführen, der Mensch muss sich wieder auf das ‚Reinmenschliche‘ besinnen, auf ‚das von aller Konvention losgelöste‘, auf seine ureigene Natur, auf jene archetypische Qualität, die ihm selbst innewohnt, Mahnung und Richtschnur zugleich, oberste Norm aller künftigen Eigenschaften, die verschüttet ist, aber immer wieder durchbricht, gerade auch in Zeiten der Revolution. Für Wagner sind Revolutionen die Geburtshelfer der wahren menschlichen Natur.“[7]

Weiter Udo Bermbach zu dieser Katalysator-Funktion bei der Bereinigung des Menschlichen und zum Zusammenhang mit dem Individuellen: „In einem kurzen Eingangskapitel umreißt Wagner das Verhältnis von Natur, Mensch und Kunst, ein einziges Entfremdungsverhältnis, das umzukehren die Aufgabe der Revolution sei. ‚Der wirkliche Mensch wird nicht eher vorhanden sein, als bis die wahre menschliche Natur, nicht willkürliche Staatsgesetze sein Leben gestalten und ordnen; die wirkliche Kunst wird nicht eher leben, als bis ihre Gestaltungen nur den Gesetzen der Natur, nicht der despotischen Laune der Mode unterworfen zu sein brauchen.‘ Leben und Kunst – hier sind sie in Parallele gesetzt, gehen sie ineinander über, und so zeigt sich eine weitere zentrale Überzeugung in Wagners Denken: dass das Leben in der Kunst und die Kunst im Leben aufgehen sollen. Es geht um eine ästhetische Lebensführung, es geht um eine Kunst, die auch die moralischen Standards festlegt, aus denen das Leben seine Orientierung gewinnt. Damit dies geschehen kann, muss das Volk in seine Rechte eingesetzt werden. Ausführlich handelt Wagner vom Verhältnis des Volkes zur Kunst, bestimmt das Volk ‚als Inbegriff aller Einzelnen, welche ein Gemeinsames ausmachen‘, zugleich als ‚Inbegriff aller Derjenigen, welche eine gemeinschaftliche Noth empfinden‘, und sieht im Volk ‚die heiligende Kraft für das Kunstwerk‘, die es aber erst sein kann, wenn es sich aus materiellem und geistigem Elend befreit hat. Aufstand des Volkes also gegen seine Lebensbedingungen und gegen die Zustände der Zivilisation ist Voraussetzung, wenn der natürliche Zusammenhang von Leben und Kunst wiederhergestellt werden soll, wenn die unverfälschte, das heißt durch Zivilisation unverbogene ‚menschliche Natur‘ zum Vorschein kommen soll, wenn eine neue Kunst entstehen soll.“[8]

Auch in Wagners vermeintlich nach-revolutionärer Zeit stand die Emanzipation des Individuums, das Abschütteln des Fremden, das Wieder-Besinnen auf das Eigene und das Aneignen seiner Selbst – hier wieder der Bezug zu Stirner, aber auch zu Otto Gross – stets im Mittelpunkt seines Denkens und Schaffens. Der Akzent lag beim frühen Wagner eher auf dem Sozialen, beim späteren auf dem Individuellen, Bewußtseinsmäßigen. Dazu wieder Udo Bermbach, der eine spätere Schrift Wagners wie folgt kommentiert: „Scharfe Formulierungen, scharfe Urteile, keinerlei Abkehr von der Radikalität der Dresdner Zeit, ein komplettes Verwerfen des gesellschaftlichen Status quo. Der könnte, so Wagner, nur dann ins Gegenteil einer wieder positiven Entwicklung verkehrt werden, wenn die Menschen sich auf ihre ursprüngliche Natur zurückbesinnen, wenn sie sich vom Weg einer falschen, in die Entfremdung mündenden Moderne abkehren, wenn sie in der Einheit der antiken Polis der Einheit von Politik, Religion und Kult wieder ihr Vorbild sehen würden.“(Bermbach bezieht sich auf Wagners Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“[9])

Zur eingehenden Fragestellung zurückkehrend – was war der Zweck für Wagners Kunstschaffen aus seinen tiefen Überzeugungen heraus? –, können wir daher mit Udo Bermbach resümieren: „Sein Ziel lag in der Einlösung des ‚Reinmenschlichen‘, der ‚von aller Konvention losgelösten‘ Lebens- und Verhaltensweise der Menschen.“[10]

Abschließend lassen wir Wagner sein Ideal noch einmal mit seinen eigenen Worten benennen: „Das Reinmenschliche mit dem ewig Natürlichen in harmonischer Übereinstimmung zu erhalten.“[11] Oft spricht er von der Zukunft; dort liegt das Ziel: „In der freien Selbstbestimmung der Individualität liegt daher der Grund der gesellschaftlichen Religion der Zukunft.“[12]

 

Manifest, Teil 2

 

[1] Richard Wagner: „Kunst und Klima“, zit. aus: Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 332

[2] Vgl. Robert Donington: Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ und seine Symbole. Musik und Mythos, Stuttgart 1976

[3] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 327

[4] Aus: Richard Wagner: „Das Künstlertum des Zukunft“, zit. aus: Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 290)

[5] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 333. Gregor-Dellin zitiert aus Wagners „Oper und Drama“.

[6] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 80, Zitate Richard Wagners aus: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bände und 2 Ergänzungsbände, Leipzig o.J. (1907), Bd. 4 S. 168f.

[7] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 79, Zitate Richard Wagners aus: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bände und 2 Ergänzungsbände, Leipzig o.J. (1907), Bd. 4 S. 318

[8] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 78/79, Zitate Richard Wagners aus: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bände und 2 Ergänzungsbände, Leipzig o.J. (1907), Bd. 4 S. 61

[9] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 77, Bermbach nimmt hier Bezug auf: Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bände und 2 Ergänzungsbände, Leipzig o.J. (1907), Bd. 3 S. 19, zit. in: Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 79)

[10] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 209

[11] Richard Wagner in: Bayreuther Blätter 1883, S.1, zit. in: Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 13

[12] Richard Wagner: „Oper und Drama“, zit. aus: Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 333

 

Links: Udo Bermbach: http://www.bermbach.de/ wagnerspectrum: http://www.wagnerspectrum.de/ Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Wigand, Leipzig 1850

 

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