Vom „Reinmenschlichen“ zum „Wahrsager“
Kunst heute in der Nachfolge von Richard Wagner
Die Post-Musik vor dem Hintergrund Richard Wagners Theorien
Des Manifestes erster Teil
Kapitel 2: Wagners künstlerische Mittel zum Zwecke
Die Frage, wie das Ideal zu verwirklichen sei, beantwortet Wagner so: durch Kunst; durch eine neue, bessere Kunst. Die Kunst war für Wagner das wesentliche Mittel bei der Wiedererlangung eines Status der Natürlichkeit: „Die Revolution wird zum Prozess einer Bewusstseinsveränderung beim Menschen, der über Kunst und Kunstproduktion in Gang gesetzt wird.“ (Udo Bermbach[1])
Was sind nun die künstlerischen Mittel, mit denen Wagner versucht, seine Idealvorstellungen umzusetzen? Was ist der Beitrag seiner Kunst dazu, wenn das „Reinmenschliche“ und „Natürliche“ wieder mehr geltend gemacht und wiederhergestellt werden sollen? Wie stellte sich Richard Wagner diesen Prozeß genau vor?
Dazu weiter Udo Bermbach: „In seinem Haus wollte Wagner ein neues Verhältnis von Künstler und Zuschauer begründen, wollte eine nicht durch Alltag und Zeitbegrenzung eingeengte Konzentration auf seine musikdramatischen Werke, aus der eine neue ästhetisch-politische Erfahrung hervorgehen sollte, mit der Konsequenz der Reflexion auf die moralischen Grundlagen des Lebens. Ein außergewöhnliches Gemeinschaftserlebnis sollte sich da ereignen, durch das die ‚Wahrheit‘ des dramatischen Geschehens auf der Bühne, das ‚Reinmenschliche‘, wieder ins Bewusstsein der Zuhörer trat. So wie in der griechischen Antike die Zuhörer in der Aufführung der Tragödien ihre eigenen Probleme wiedererkannt hatten, deren Lösung sie suggeriert bekamen, so wollte Wagner, dass in seinen Musikdramen jeder einzelne Besucher als Mitglied eines gemeinschaftlichen Erlebens und Fühlens in einen neuen sozialen und politischen Horizont eingebunden wird.“[2]
Wir sehen: Es geht Wagner immer um eine Wirkung beim Publikum. Seine Dramen sollten insbesondere gefühlsmäßig im Inneren des Konsumenten für Bewegung sorgen und ihn in Richtung von Einsichten über seine eigene Lebensführung lenken („…mit der Konsequenz der Reflexion auf die moralischen Grundlagen des Lebens“).
Dabei folgte er dem alten aristotelischen Prinzip der Kunst als Imitation der Natur. Während für den von Wagner hochgeschätzten Sebastian Bach die Kunst noch aus der Spannung zwischen der realen Welt (Natur) und dem die reale Welt ordnenden Gott erwuchs, so entfällt Gott bei Wagner.
Die Götter werden regelrecht in einer „Dämmerung“ abgeschafft (während mit Brünnhilde wieder eine Matriarchin erscheint), und die Spannung entsteht am Ende nur noch aus dem Verhältnis der Menschen untereinander und vor allem des Menschen mit sich selber: geradezu programmatisch dafür steht die erste Szene der „Meistersinger“, wo der (am Weihnachtsoratorium angelehnte) Choral immer wieder unter- und aufgebrochen wird durch die Interaktion von Eva, Walter und Lene.
Der erste zentrale Begriff dafür, wie jene Wirkung beim Publikum erzielt werden kann, lautet „Mythos“. Wagner lehnte historische Stoffe als Grundlagen zu seinen Bühnenwerken ab; das Historische sei zu oberflächlich. „Ganz anders dagegen der Mythos, der – so wie Wagner ihn verstand – aufs Grundsätzliche zielte, das Archetypische der menschlichen Existenz zum Vorschein brachte, jenes von ihm als Ziel seiner Kunst verstandene ‚Reinmenschliche‘“. (Udo Bermbach[3])
„Das Unvergleichliche des Mythos ist“, so Wagner in seiner Schrift „Oper und Drama“, „daß er jederzeit wahr, und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.“[4]
Udo Bermbach: „Mythen erzählten ewig gültige Geschichten, ihre Stoffe waren Beispiele für das, was sich zu allen Zeiten unter Menschen immer wieder ereignete. In Mythen wurden Grundkonflikte behandelt, die großen Widersprüche der Menschen von Leben und Tod, von Liebe und Verzweiflung, von Macht und Unterwerfung, von Verantwortung und Verantwortungsflucht.“[5]
Zur Erreichung seines Zieles und um so tief wie möglich in die menschliche Seele vorzudringen, lag es für Wagner auf der Hand, mythische Stoffe für seine Dramen zu nehmen: Nur diese hatten die nötige Intensität. Wenn er nun den mythische Text mit der universellsten und absolut tiefsten Kunstform – die Musik – verband, so konnte sich Wagner – der um sein insbesondere musikalisches Genie wußte – seines Erfolgs sicher sein; diese seine Vorgehensweise mußte Wirkung zeitigen.
Der Mythos mußte nun gefühlsmäßig genau erfaßt und dargestellt werden. Dazu Wagner: „Ich mußte daher meinen ganzen Mythos, nach seiner tiefsten und weitesten Bedeutung, in höchster künstlerischer Deutlichkeit mitteilen, um vollständig verstanden zu werden; nichts darf von ihm irgendwie zur Ergänzung durch den Gedanken, durch die Reflexion übrig bleiben, jedes unbefangene menschliche Gefühl muß durch seine künstlerischen Wahrnehmungsorgane das Ganze begreifen können, weil es dann auch erst das Einzelnste richtig in sich aufnehmen kann.“[6]
Der Mythos appelliert an tiefe seelische Schichten des Konsumenten, hier geht es um alles: Leben und Tod, Rettung und Verdammnis. Die mythischen Bilder – die Bilder, die er zur Erfassung seines Schicksals in sich sieht –, hat er mit anderen Menschen gemein: das „kollektive Unbewußte“. Dieses muß nun der Künstler in seiner Archetypik genau wie möglich ausgraben, herausschälen und darstellen. Das geschieht durch Musik, Text und körperlich-szenische (schauspielerische) Darstellung auf der Bühne im musikalischen Drama. (Eine Bezeichnung für seine Kunstwerke, die offenbar einem neuartigen Genre zugehörig waren, hatte Wagner selbst nicht; nur „Oper“ sollte es nicht mehr heißen.)
„Was aber ist das Drama, dem Wagner sämtliche Künste zu unterwerfen suchte?“, fragt der Wagnerologe Carl Dahlhaus, und gibt die Antwort: „Primär die sichtbare Handlung, die szenische Aktion, begriffen als Darstellung unverzerrter menschlicher Natur.“[7]
Und damit kommen wir zum zweiten zentralen Begriff dafür, wie die angestrebte Wirkung erzielt, d.h. der Konsument bewegt werden kann: „Unwillkürlichkeit“. Diese bezieht sich auf das Stimmliche, Mimische und Gestische, durchaus aber auch auf das Orchester.
Das Publikum tief zu beeindrucken, das ging nicht mehr mit der Nummernoper, mit der Grand Opéra, wie sie damals Mode war. Die Oper sorgte nur für oberflächliche Kulinarik. Bei Martin Gregor-Dellin heißt es dazu: „Die Vergnügungstendenz sei es, die dem Drama die Musik entzogen habe, der Oper aber den Kern und die höchste Absicht des Dramas: zu erschüttern, zu bewegen.“[8]
Halten wir fest: Wagner wollte erschüttern und bewegen. Nur ein erschütterter Mensch, so Wagner, der im Innersten aufgewühlt ist, wird seine Lebensführung in Frage stellen, wird sein eigenes Leben überdenken und möglicherweise Schlüsse dahingehend ziehen, daß er sein Leben fortan in mehr Übereinstimmung mit seiner Natur, d.h. seinen eigentlichen und tieferen Bedürfnissen führt.
Der Zuschauer und Zuhörer soll Schicksale präsentiert bekommen, für die er großes Interesse entwickelt und an denen er Anteil nimmt. Die Protagonisten müssen dabei ihre Gefühle und ihre Konflikte so deutlich wie möglich zeigen und benennen. Je besser sie in dieser Hinsicht vom Komponisten und vom Texter ausgestattet und von den Schauspielern und Sängern dargestellt werden, desto mehr kann sich der Konsument identifizieren, desto mehr gerät sein eigenes Innere in Schwingung. Dazu Richard Wagner in seiner Schrift „Oper und Drama“: „Das unteilbare Kunstwerk der Zukunft wird unmittelbar aus der menschlichen Natur abgeleitet.“[9]
Eine solche Kunst braucht also neue Ausdrucksmittel, die direkt aus spontanen – also eigentlich unkünstlerischen – menschlichen Äußerungen erwächst; wir werden gleich sehen, welche das insbesondere sind. Dieses Kunstschaffen wiederum setzt auch, so Wagner, eine andere Art zu leben voraus. Aus Erstarrtem und Leblosem kann keine Kunst entstehen, die bewegt. Zitat Martin Gregor-Dellin: „Der Erneuerung der Kunst muß eine Erneuerung des Lebens vorausgehen, das wissen wir bereits. Wie die Kunst in der Kunstkritik, so sei das ‚Leben‘ in der Politik erstarrt. Die politische Rationalität der gegenwärtigen Zivilisationsgesellschaft entspricht nach Wagner also etwa dem reflektierenden Kritikastertum einer Professorenkultur. Der reflektierende Überbau muß seiner Auffassung nach erst entmachtet werden, damit der dichtende Musiker und Dramenschöpfer wieder unverstört aus dem Unbewußten schaffen kann, richtiger gesagt: aus dem ‚Unwillkürlichen‘, einem allgemeinen Willen und Trieb, der allem Leben zugrunde liegt und vom ‚Willkürlichen‘, Reflektierenden, überlagert und verdorben wird.“[10]
Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind – der Künstler wieder Volk geworden ist und sich von Verkrustungen freigemacht hat –, ist er in der Lage, das ideale Kunstwerk zu schaffen: „Im Drama der Zukunft sind die Schwierigkeiten kranker Epochen überwunden, die Gesetze der Dramaturgie stimmen mit dem unwillkürlichen Ausdruck der menschlichen Empfindung überein, und so können sich die Urzeitverheißungen schönheitstrunkener Anfänge in einem neuen Gemeinschaftserlebnis erfüllen. Was dabei das Wort nicht zu Ieisten vermag, das leistet die Musik. Die Quintessenz von Wagners Dramentheorie lautet: Dichterisch ist nur, was vollkommen im musikalischen Ausdruck aufgeht, also sangbar und motivisch erfaßbar ist. Musikalisch ist nur, was der Verwirklichung und dem Ausdruck der dichterischen Absicht dient. Alles andre ist überflüssig und demzufolge schlecht.“ (Martin Gregor-Dellin[11])
Von großer Bedeutung ist für Wagner neben Musik, Schauspiel, Bühnenbild und Kostümen selbstverständlich der Text. Dieser ist sogar immer der Ausgangspunkt für das weitere Schaffen; Wagner beginnt die Arbeit an allen Dramen mit einem Prosaentwurf, aus dem das Textbuch entsteht, das dann in der Partitur nur noch wenig verändert wird. Aus dem Text ergibt sich die Musik, also muß er auch – sonst hat alles keinen Sinn! – verständlich sein. Dazu ein weiterer erstklassiger Wagnerologe, Egon Voss:
„Wagner ging es, pointiert gesagt, nicht um das Singen und nicht um die Kunst des Gesangs [kursiv von P.P. Das wird noch von Bedeutung sein], wie sie die traditionelle Oper seiner Zeit kennzeichneten, sondern um den Text. Auf ihn nahm die herkömmliche Oper nach seiner Ansicht zu wenig Rücksicht. Darum sollte die Komposition so angelegt sein, dass sie die Verständlichkeit des Textes für den Zuhörer garantiert. Wagner ist auch nie müde geworden, von seinen Sängern vor allem deutliche Aussprache zu verlangen. Das Prinzip, nach welchem Wagner seine Texte vertonte, lässt sich als das der sprachgerechten, nämlich sinn- und akzentgemäßen Deklamation bezeichnen. Dessen unabdingbare Konsequenz ist die Syllabik in der Vertonung. (…) Eine weitere notwendige Folge ist der Verzicht auf Textwiederholungen, die Repetition von Silben, Wörtern und Versen, wie sie in der traditionellen Oper gang und gäbe sind. Dass Koloraturen und Kadenzen, Triller, Vorschläge und andere Gesangsornamente ausgespart bleiben, bedarf in diesem Zusammenhang kaum der Erläuterung; denn Wagners ,Musikdrama‘ versteht sich nicht zuletzt als Gegenentwurf zur ‚Gesangsoper‘. Dort stehen allein der Sänger und seine Stimme im Mittelpunkt, jedenfalls nach Wagners Verständnis. Im Ring [des Nibelungen] dagegen gibt es nur den singenden Darsteller, der dem Drama als dem Zweck des Ganzen untergeordnet ist.“[12]
Auch die textliche Gestaltung des Dramas hat immer wieder nur eine Bedeutung und ein Ziel: „Der Rückgriff aufs Altdeutsche ist (…) ein Mittel zur Restitution des rein Menschlichen in der Dichtung (die als Kunstwerk der Zukunft die Aufhebung der Entfremdung in der Wirklichkeit antizipiert).“ (Carl Dahlhaus[13])
Das Drama aber spiegelt nichts anderes wider als den existentiellen Sinn der Personen und ihrer Handlungen. Die tiefsten Konflikte eines Menschen sollen auf die Bühne gebracht werden. Das ganze Leben soll dargestellt, auf der Bühne quasi nachgestellt werden.
Wagner: „Ich setze nämlich als die Bedingung für das Erscheinen des Kunstwerkes in allererster Stelle das Leben, und zwar nicht das im Denken willkürlich wiedergespiegelte des Philosophen und Historikers, sondern das allerrealste, sinnlichste Leben, den freien Quell der Unwillkürlichkeit.“[14] (kursiv von P.P.)
Der Konsument soll in das szenische Geschehen hineingezogen werden – als ob es das Leben selbst ist. Alles soll so realistisch, ja naturalistisch wie möglich dargestellt werden.
Dem Volk – den Dramenkonsumenten – soll es so gehen wie dem Volk auf der Bühne der „Meistersinger“: Dort singt es, nachdem es den ersten beiden Strophen von Walters Bewerbungslied vor den Meistern andächtig gelauscht hat und mehr und mehr in Begeisterung davon geraten ist: „So hold und traut, wie fern es schwebt, doch ist‘s als ob man‘s miterlebt!“
Dieses Miterleben seitens des Publikums erreicht der Künstler durch Natürlichkeit (besser gesagt durch Imitation von Natürlichkeit). Aber dies gelingt ihm nicht, wenn seine Mittel nur aus Regeln stammen, sich an Überkommenem halten oder Ergebnis einer rein intellektuellen Herangehensweise sind. Wagner läßt Hans Sachs sagen: „Und ob Ihr der Natur noch seid auf rechter Spur, / das sagt Euch nur, wer nichts weiß von der Tabulatur.“
Es bedurfte einiger neuer Techniken. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Art des Gesangs. Wagner nimmt hier eine bedeutende Neuerung vor – und darin liegt das eigentlich Revolutionäre seiner Kunst. Und zwar läßt er in seiner kompositorischen Arbeit konsequent Tonart, Tonlage, Melodie, Harmonik und Rhythmik direkt aus dem Gefühl des Protagonisten, wie es konkret in der Szene vorherrscht, entstehen. Er fragt sich: Was fühlt der Protagonist in genau dieser Situation des dramatischen Verlaufs und drückt er aus? Wagner identifiziert sich mit dem Protagonisten und läßt den Impuls aus seinem eigenen Bauch heraus aufsteigen und musikalische Form werden. Im Hintergrund, in der harmonischen und motivischen Begleitung der Singstimme, spielen auch andere Dinge mit herein – etwa Erinnerungen, Kommentierungen oder Äußerungen von Gegenspieler-Protagonisten. Wagner läßt also – neben dem bereits sehr präzisen verbal-musikalischem Ausdruck – in der Orchestermusik, die hinter dem Wort steht, tiefere Schichten des Bewußtseins sprechen. Das erweitert das Dargestellte um Dimensionen und ist höchst beeindruckend und macht das eigentlich Faszinierende an der Wagner-Musik aus: Jede Note ist voller Leben und Sinn, jede Note erscheint als das Gegenteil von Zufälligkeit, sie muß, durch das Geschehen bedingt, notwendig so und nicht anders sein: ein Fest der Sinnhaftigkeit.
Der entsprechende Vorgang beim Komponieren muß von besonderer Faszination gewesen sein; er spiegelt Wagners Gefühlsleben wider: „Nur wenn ich unreflektiert schaffe, steht mir alles zu Gebote, wenn ich aber überlege, wie ein Thema in eine andre Tonart zu bringen ist, verwirre ich mich.“[15] Dies soll in einem biographischen Spielfilm dargestellt werden; dafür wird der Wagner-Darsteller von einem Experten wie Stefan Mickisch[16] speziell geschult werden müssen; vielleicht sollte Mickisch gleich selbst Wagner spielen – etwa so, wie Gustav Leonhardt im Film „Chronik der Anna Magdalena Bach“ von Jean-Marie Straub Johann Sebastian Bach spielt (und Nicolaus Harnoncourt den Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen).
Dieses Kompositionsverfahren ist natürlich nicht wirklich neu, sondern so alt wie das menschliche Kunstschaffen. Es wurde nur in den späten Zivilisationen zu viel überlagert und entfernte sich von der „unwillkürlichen Quelle“ zu sehr. Wagner war, weil selbst wieder in echte, tiefere Gefühle vorstoßend, in der Lage, den Ursprung wieder freizulegen. Neu sind nur die Konsequenz und die Radikalität, mit der Wagner diese Rückbesinnung betreibt und jetzt vorgeht. Musikalische Formen wie das Lied, wiederkehrende Einheiten von Wort und Ton, voraussehbare feste Strukturen werden nahezu völlig aufgeben; stattdessen verfolgt die Musik ständig das dynamische Geschehen; alles ändert sich im Fortgang des Dramas; permanent reagieren die Protagonisten auf das sich entwickelnde Geschehen – all das verlangt eine sich ständig verändernde Melodik, Harmonik und Rhythmik. Die „Nummern“ (Arien, Rezitative etc.), die die Oper ausgezeichnet hatten, verschwinden, und es entsteht die „unendliche Melodie“: Nichts kommt zum Stillstand, andauernd ändert sich das Tempo; alles entwickelt und verändert sich pausenlos weiter: wie im richtigen Leben.
„Wie im richtigen Leben“ – wenn man es denn zuließe! Das Leben zulassen aber (und sich dazu vom Musikdrama anstoßen zu lassen) heißt, die erstarrten Formen zu verlassen, unter denen die wirkliche Person mit ihren wirklichen Gefühlen zum Vorschein kommt. Denn darum – wir wollen es nicht vergessen – geht es ja! Das soll ja im richtigen Leben stattfinden! Schauen wir also weiter, wie Wagner das Leben so treu wie möglich auf die Bühne holen wollte („als ob man‘s miterlebt!“), um den Konsumenten möglichst stark zu beeindrucken und zu einer Änderung seines Lebens zu bewegen.
Dazu seien zur vertiefenden Erläuterungen des Wagner’schen Komponierens weitere Zitate von Martin Gregor-Dellin bzw. aus Richard Wagners Schrift „Oper und Drama“ angeführt: „Der Unterschied zwischen der ‚patriarchalischen‘ Melodie und der aus der dichterischen Absicht auf dem natürlichen Wortvers emporwachsenden Melodie bestehe nun darin, schreibt Wagner, daß die eine sich nur im beschränktesten Tonfamilien-Verhältnis kundgibt, die andere jedoch die engere Verwandtschaft der Tonart durch die Verbindung mit wiederum verwandten Tonarten durchbricht, um sie ‚bis zur Urverwandtschaft der Töne überhaupt auszudehnen, indem sie so das sicher geleitete Gefühl zum unendlichen, rein menschlichen Gefühle erweitert‘.“[17]
„Als das vollendetste Kunstwerk müsse jenes angesehen werden, in welchem viele solcher Perioden sich auseinander entwickelten und das Wesen des Menschen so in einer Gesamtkundgebung begreiflich machten. Das vollendete Drama stelle die Richtung des menschlichen Wesens in einer Reihe folgerichtig sich bedingender Gefühlsmomente.“[18]
„Richard Wagner will nicht nur beweisen, daß seine Kompositionsmethode die bessere, modernere sei, daß sie den Erfordernissen der Artikulation entgegenkomme, psychologisch mehr leiste oder zum Verständnis des menschlichen Wesens beitragen könne, sondern daß sie unwillkürlich und unausweichlich aus einer Art Weltwillen hervorgehe, sich aus der menschlichen Natur ableite und mit der Erneuerung der Gesellschaft in innigstem Zusammenhang stehe.“[19]
„Wagner untersucht getrennt die Entwicklungsgeschichte der Melodie und des Sprachverses. Der dichtende Musiker der Zukunft, der ‚absichtliche Darsteller des Unwillkürlichen‘, könne sich weder der herkömmlichen, ‚patriarchalischen‘ Melodie noch des strengen Verses mit Endreim und mechanischen Hebungen und Senkungen bedienen, wenn er sich mit einem natürlichen Gefühlsausdruck verständlich machen wolle. (…) Die Übermittlung eines auszudrückenden Inhalts, vom Tondichter über den Sängerdarsteller auf den zuhörenden Zuschauer, müsse so einfach sein wie Einatmen und Ausatmen.“[20]
Die „Hebungen und Senkungen“ des sprachlichen Ausdrucks dürfen nicht von vorgefertigten Strukturen und Schemata bestimmt werden (erst recht nicht von solchen, die auf Fremdsprachen basierten), sondern müssen sich aus dem Gefühl ergeben. Der Hörer muß dies unmittelbar nachvollziehen können; es muß ihm als sinnvoll und einleuchtend erscheinen.
Doch verlassen wir jetzt die musikalische Umsetzung der verbalen Äußerungen des Protagonisten. Das Einfühlen des Publikums mit dem Geschehen auf der Bühne wird nicht nur durch die Einheit von Wort und Musik begünstigt – Wagner geht in seinem Realismus bzw. seinem Naturalismus noch viel weiter: „Die Rheintöchter sollen schwimmen und die Walküren durch die Luft reiten usw.“, heißt es bei Egon Voss über den Ring des Nibelungen, und weiter: „Die Tendenz zum Realismus zeigt sich auch noch in anderer Beziehung. Im Rheingold wie im Siegfried wird das Schmieden zwar rhythmisch kunstvoll stilisiert, ist aber klanglich nichts anderes als reales Geräusch, produziert auf echten Ambossen. Entsprechend ist von ‚Getöse‘ die Rede. Zu den Gewitterdarstellungen in der Walküre und im Siegfried wird eigens eine ‚Donnermaschine‘ eingesetzt, und Hunding wie Hagen blasen auf ‚Stierhörnern‘. Obwohl es sich beim Ring um Musiktheater handelt, eine Gattung also, deren Grundprinzip es ist, die Affekte der handelnden Personen durch Gesang auszudrücken, enthält jedes der vier Stücke Stellen, an denen der Schrei als Ausdrucksmittel Verwendung findet. Ähnliches gilt für das Lachen. Fafner im Siegfried gähnt und brüllt. Die Nibelungen in der 3. Szene des Rheingold stieben ‚unter Geheul und Gekreisch‘ auseinander. Der Realismus in Ausdruck und Darstellung betrifft schließlich auch das Singen selbst. Die geforderten Stimmfärbungen gehen weit hinaus über das, was im Operngesang gewöhnlich verlangt wird. Man findet Vorschriften wie: ‚kreischend‘, ‚schreiend‘, ‚heulend und schluchzend‘, ‚mit bebender Stimme‘, ‚seufzend‘, ‚bitter‘, ‚grell lachend‘ usw. Noch deutlicher zeigt sich die realistische Tendenz in den Anweisungen, die Wagner während der Proben zur ersten Aufführung 1876 in Bayreuth gab. Sie verlangen Vortragsweisen wie ‚mit lustgierigem, schneidenden Hohn‘, ‚mit schmerzlich erbebendem Tone‘, ‚fast flüsternd‘, ‚im Tone düsterer Strenge‘ usw. In der 1. Szene der Walküre soll Sieglinde ihr ‚So bleibe hier!‘ ‚mit rückhaltlosem Hervorbrechen der äußersten Tongewalt‘ singen, während die Vorschrift für den Vers ‚wo Unheil im Hause wohnt‘ lautet: ‚Bei den breiter zu nehmenden Schlußtakten wandelt sich die Härte des Ausdrucks in klageerfülltes, schmerzliches Erbeben.‘ Wagners Forderungen sind auch hier bisweilen äußerst weit gefaßt. So heißt es zu Sieglindes Worten ‚Deines Auges Stern laß noch einmal mir strahlen‘ im 2. Akt der Walküre: ‚Sieglinde an Siegmund gelehnt mit inbrünstigem, in Schmerz und Seligkeit erbebendem Ausdruck‘.“[21]
Ganz zu schweigen von den Urschreien der Kundry im Parsifal!
Es ging Wagner darum, über die Sprache hinausgehende Äußerungen von Gefühlen auf die Bühne zu holen. Kunst sei, so Wagner, was der Hörer nicht als gekünstelt empfindet, sondern als echt. Und dazu gehören nonverbale Mittel und Gefühlsäußerungen. Das Verbale oder das Transverbale – beides müsse den Anschein des „Unwillkürlichen“ haben. Es sollte so wirken, als identifizierten sich seine Sänger und Schauspieler mit der Figur und würden improvisieren, als seien sie selbst diese Figur.
Die menschliche Stimme ist eines der zentralen Mittel, mit denen Wagner sein Publikum „erschüttern und bewegen“ wollte; und alle Musik entstand für ihn aus dem Gesang. Doch was ist mit der Musik des Orchesters? Dazu heißt es bei Gregor-Dellin: „Unausweichlich muß er ja wohl noch von der am Beispiel entwickelten Versmelodie des Darstellers auf sein ureigenstes Absolutum, die Orchestermelodie, zu sprechen kommen. Und er sagt, auf die Versmelodie des Darstellers beziehe sich ‚als Ahnung die vorbereitende absolute Orchestermelodie; aus ihr leitet sich als Erinnerung der ‚Gedanke‘ des Instrumentalmotives her‘. Man muß zugeben, daß ihm hier in einem einzigen Satz eine perfekte Beschreibung der Leitmotivtechnik oder wenigstens ihrer Grundlagen gelingt […].“[22]
Was am Ende das Publikum am meisten erschüttern soll, das sind nicht Text, Gesang, Bühnenbild usw. (alle Elemente des „Gesamtkunstwerks“), sondern es ist die Musik des Orchesters! Diese ist ohne Frage das Hauptmittel zum Zweck. In ihr steckt so viel Emotionalität und Substanz, daß der Hörer unmittelbar angesprochen und in das Geschehen hineingezogen wird. Die Orchestermusik ist weitaus beeindruckender und berührender als die Stimmen, läßt tiefere Schichten des Bewußtseins (oder Unterbewußtseins) sprechen.
Das Orchester übernimmt auch noch die Funktionen, die in der griechischen Tragödie der Chor innehatte.[23] „Nur das Orchester als Träger der unendlichen Melodie, die Nichtssagendes vermeidet und sich motivisch streng an die dichterische Absicht des Ganzen hält, vermag nach Wagner ständig und ohne Unterbrechung Inhalt und Absicht des Dramas in jeder Einzelheit dem Aufnehmenden gegenwärtig zu halten.“[24]
Der Träger des tiefsten Gefühls ist das Orchester. Die Orchestermusik drückt das Reinmenschliche und das darüber hinausgehende Urnatürliche, den absoluten Grund, aus. (Das wird sich – wie wir später sehen werden – in der Post-Musik vollständig verlagern.) Martin Gregor-Dellin schreibt, Wagner zitierend: „Die Orchestermelodie soll aus den ‚gewaltigsten Tiefen der reichsten menschlichen Natur‘ dringen.“[25]
Und dann stellt Martin Gregor-Dellin folgenden sensationellen, doch nichtsdestoweniger realistischen Bezug her: „Denkt man beim ‚Unwillkürlichen‘ Wagners denn nicht ständig an das Freud‘sche ‚Es‘? Vielleicht hat das Rheingold-Es des Welturgrunds mehr mit ihm zu tun, als sich unsre musikalische Schulweisheit träumen läßt. Wieviel Wagner vom ‚Es‘ im psychologischen Sinne begriff, bezeugt ein Brief an König Ludwig II. von Bayern vom 26. Januar 1867, in dem Wagner sich selber ‚alter Meister des ‚es‘‘ titulierte und in dem es heißt: ‚Wie deute ich dieses kleine, so oft und immer nur flüchtig eingeworfene, scheinbar so nichtssagende ,es‘? […] Erst wenn dies stolze Weltrauschen verstummt, in stiller Nacht, da hören wir das Rieseln des trauten Quelles, das uns dies milde, süß-einsilbige ,es‘ zuflüstert, und die Seele fühlt, daß dies so unaussprechlich groß und allumfassend ist, daß kein Wort, noch so groß und mächtig, es aussprechen und umfassen kann.‘ Er hatte eine komplexe Vorstellung vom Wirken des ‚Unwillkürlichen‘(…).“[26]
Ohne Wagners dichterisch großartige Leistung schmälern zu wollen (der Neid der Dichter hat es geschafft, daß Wagner nicht als Dichter gilt – er, der u.a. dem Expressionismus ein halbes Jahrhundert voraus war!), ist es doch offenkundig, daß seine Instrumentalmusik das wichtigste Mittel zum Zwecke ist, das Publikum bis auf den Urgrund und hin zum Reinmenschlichen zu berühren. Wagner wußte das und wollte am Ende nur noch Sinfonien schreiben und das Stimmliche und Textliche ganz seinlassen.
[1] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 81
[2] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 126
[3] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 18
[4] Zit. bei Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 16
[5] Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 18
[6] Brief an Franz Liszt über die Arbeit an „Die Walküre“, zit. nach Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 347
[7] Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart (Reclam) 1996, S. 224
[8] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 328
[9] „Oper und Drama“, zit. aus: Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 332)
[10] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 333, Wagner-Zitate aus: „Oper und Drama“
[11] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 338, Wagner-Zitate aus: „Oper und Drama“
[12] Egon Voss im Kommentar zu: Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur. Herausgegeben und kommentiert von Egon Voss, S. 480/481
[13] Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart (Reclam) 1996, S. 150
[14] Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bände und 2 Ergänzungsbände, Leipzig o.J. (1907), Bd. 4 S. 239, zit. in: Udo Bermbach: Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 83
[15] Cosima Wagner, Tagebuch, 13.1.1878, zit. aus: Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 806
[16] http://www.mickisch.de
[17] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 335; Zitate aus „Oper und Drama“
[18] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 337
[19] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 342
[20] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 334, Zitate aus „Oper und Drama“
[21] Egon Voss im Kommentar zu: Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur. Herausgegeben und kommentiert von Egon Voss, S. 477/478
[22] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 337
[23] Wichtig im Zusammenhang mit dem Chor: „Nur unterscheidbare Individualitäten könnten auf der Bühne Teilnahme erwecken.“ Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 338
[24] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 338
[25] Martin Gregor-Dellin: „Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 188
[26] Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner – Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München Zürich 1980, S. 391, Wagner-Zitat: Brief an König Ludwig II. von Bayern vom 26. Januar 1867
Links:
Stefan Mickisch: http://www.mickisch.de Richard Wagner-Gesamtausgabe / Egon Voss: http://www.adwmainz.de/index.php?id=381 Richard Wagner: Oper und Drama, Das Buch online