Rezension
Wie eine Wand, eine riesige Welle
Tristan und Isolde in der Deutschen Oper Berlin
am 25. Mai 2014
Es war ein sonniger Sonntag und es galt, den 1. FC Lok vor dem Abstieg zu bewahren. Wir fuhren also aus der Messestadt hinauf in die Hauptstadt, um die Loksche gegen Hertha II zu unterstützen. Ein Sieg mußte her, sonst war der Abstieg in die 5. Liga so gut wie sicher.
Doch am Olympiastadion, besser gesagt am „Stadion auf dem Wurfplatz“ angekommen (oder, wie es auch heißt, am Olympiapark-Amateurstadion auf dem Olympiastadion-Gelände am Hanns-Braun-Platz), gab es keine Eintrittskarte mehr: zu viele waren für das kleine Stadion gekommen! Und so mußten etliche Lok-Fans, aber auch Unterstützer vom HFC, draußen bleiben – vielleicht lag es ja daran, daß es am Ende schief ging…
Wir nutzten die Gelegenheit für eine Besichtigung des Olympiastadions und hofften, von ganz oben an den Dachstützen einen Blick auf das Spielfeld zu ergattern. – Fehlanzeige!: Das „Stadion auf dem Wurfplatz“ ist von Bäumen umsäumt, keine Chance. Immerhin bekamen wir etwas von der Klangkulisse mit und konnten auch schöne Blicke auf das Schwimmstadion werfen, wo ein strahlend blau-türkises Wasser in ehrenwerten ergrauten Gemäuern ruht.
Enttäuscht verließen die Lok-Fans das Areal: Obwohl kurz vor Schluß noch Jubelschreie zum Ausgleich zu hören waren, hatte das 1:1 nicht gereicht: Lok wird in die Oberliga Nordost absteigen. (Leider ist die TSG Neustrelitz nicht in die 3. Liga aufgestiegen – das wäre die Rettung des 1. FCL gewesen.)
Aber der Tag war ja noch lang…
*
Einmal in Berlin, so hatten wir uns gedacht, werden wir uns noch ein zweites Erlebnis gönnen: Tatsächlich wurde am selbigen Sonntag, 16 Uhr, in der Deutschen Oper in der Bismarckstraße „Tristan und Isolde“ gegeben, und zwar vom Generalmusikdirektor Donald Runnicles höchstpersönlich dirigiert.
Also nichts wie rüber aus dem Berliner Westend nach Charlottenburg! Vor dem Eingang standen Leute, die – bestimmt, weil sie den sonnigen Tag nicht in der Oper verbringen wollten – ihre Karten verkauften – es sollte zu ihrem Bedauern sein…
Wir bekamen schöne Plätze in der 20. Reihe des 1. Parketts und los ging es!
Die Einleitung war stark… – doch zunächst ein Thielemann-Zitat: „… die Musiker sind zu Beginn einer Vorstellung oft noch nervös, und die vielfach geteilten Instrumente hier sauber und präzise pianissimo spielen zu lassen, ist für den Dirigenten nicht leicht. Ein mißratenes Tristan-Vorspiel aber kann einen ganzen Abend ruinieren. Klingt es beiläufig, droht Langeweile, eine Langeweile, die im ersten Akt nicht so ohne weiteres korrigiert werden kann; klingt es überhitzt, verpulvert der Dirigent möglicherweise in den ersten zehn Minuten alle seine Kräfte. Der Tristan geht von null auf dreihundert, darin liegt seine Brisanz. Sein hochexplosives Material verlangt enormes Fingerspitzengefühl, wie beim Knacken eines Safes. Entweder man löst frühzeitig die Alarmanlage aus oder man trifft die richtige Zahlenkombination.“ (Christian Thielemann: Mein Leben mit Wagner, München 2012, S. 243)
Nun, Donald Runnicles hat unbedingt die „richtige Zahlenkombination“ getroffen, aber warum mir hier Christian Thielemanns Zitat einfiel, ist die „frühzeitige Alarmanlage“ – an diese mußte ich schon während der Aufführung denken, als ich mit leichtem Bangen bemerkte, wie sich die Intensität von Aufzug zu Aufzug immer mehr steigerte!
Ich muß zugeben: Ich wollte mich an so einem sonnigen Sonntag nicht allzu sehr in Gefühle bringen lassen und ließ alles gemächlich angehen, blieb ziemlich kühl, ja, bemerkte Anflüge von Hochmut bei mir… Auf keinen Fall hatte ich vor, nur weil ich für meine Verhältnisse viel Geld ausgegeben hatte, mich nun auf Teufel komm raus zu Gefühlen hinreißen zu lassen.
Ich ging also sehr cool ins Geschehen, doch die Einleitung überzeugte mich schon, ja nahm mich eigentlich schon gefangen.
Als dann das Bühnenbild erschien, spürte ich die Spannung in mir aufsteigen. Das Bild brachte schlagartig einen Ernst auf die Bühne. Dieser ließ schon kein loses Zuhören mehr gelten. Zu sehen war eine Flucht von Zimmern unterschiedlichen Stils, im Gesamteindruck eine 60er-Jahre-Dekoration. Dieses Bild sollte mehr oder weniger durch alle drei Aufzüge bestehen bleiben, nur waren die Zimmer jeweils anders angeordnet und befanden sich in einem anderen Winkel zum Publikum. Dieser Unbestimmtheit entsprach die Anordnung des Personals auf der Bühne: links auf einer Couch sitzt ein Kind; rechts auf einem Tisch wird Isolde von Brangäne für die Hochzeit zurechtgeputzt; links hinten sitzt bereits – man errät es – auf einem dunklen Ledersessel König Marke unter einer Schirmlampe. Ganz links wird in einer Küche ein Mahl bereitet. Und dann plötzlich schreitet eine nackte junge Frau über die Bühne und sorgt damit für noch mehr Ernst und den ersten Paukenschlag, der das Gefühl drastisch anwachsen läßt. Es wird klar signalisiert: Hier geht es um kein Spiel, hier passiert etwas sehr Ernstes.
Die Inszenierung ist sowohl schlicht, am normalen Menschen orientiert, als auch surrealistisch. Es ist keine sensationelle Inszenierung, weil sie wohl auch nicht spektakulär sein will – das ist gut so! –, aber es ist insgesamt eine sehr gute Inszenierung von Graham Vick.
Blieb ich in der ersten Pause noch einigermaßen lustig, so mußte ich doch schon in der zweiten Pause zugeben, daß mich etwas immer mehr in etwas hineinzog – mir war der Spaß vergangen und ich unterlag mehr und mehr dem Kunstwerk.
Das Auffallende am Zweiten Aufzug war die Art der Inszenierung der langen Szene von Tristan und Isolde: diese fand in einem offenen Wohnzimmer auf einer langen Couch bei dämmernden Licht statt: besser kann man die Flüchtigkeit dieser Liebe nicht darstellen: sie sind noch nicht so nahe, um im Bett zu enden – dafür ist ihre Liebe noch zu neu –, und der neue Morgen droht bereits; er wird die junge, noch nicht lebende Liebe zerstören.
Der dritte Aufzug dann begann mit Unruhe im Publikum, was mich noch ärgerte. Doch diese Unruhe sollte bald völlig verschwinden! Das ganze Publikum wurde bald in etwas es Überwindendes, Besiegendes hineingezogen! Das war das Verdienst aller Beteiligter, besonders natürlich des Dirigenten Donald Runnicles und der Sängerinnen und Sänger.
Keine gute Tristan-Aufführung ohne Opfer! Wieviel Tote und Verletzte hat der Tristan schon verlangt?…
Auch diesmal sollte es so kommen.
Zunächst singt der wunderbare Stephen Gould:
„Den ich gebraut,
der mir geflossen,
den Wonne-schlürfend,
je ich genossen –
verflucht sei, furchtbarer Trank!
Verflucht, wer dich gebraut!“
Dann „sinkt“ er, wie es in Wagners Regieanweisung heißt „ohmächtig zurück“.
Kurz darauf singt Egils Selins als Kurwenal:
„Hier liegt er nun,
der wonnige Mann,
der wie keiner geliebt und geminnt.
Nun seht, was von ihm
sie Dankes gewann,
was je Minne sich gewinnt!
[Mit schluchzender Stimme:]
Bist du nun tot?
Lebst du noch?“
Und genau in diesem Moment klatscht es hinter uns, klatscht es immer deutlicher, und wir wissen: einer versucht, jemanden zur Besinnung zurückzuohrfeigen. Es klatscht immer länger, lauter, schneller – doch die Frau will und will nicht aufwachen, muß in eine tiefe Ohnmacht gefallen sein. Endlich wird sie nach ein paar Minuten von Sanitätern lebendig hinausgeleitet. Gott sei Dank!
Das war der Warnschuß.
Was jetzt folgte, war die pure Überrumpelung. Ich wurde immer mehr in die Handlung hineingezogen, ohne es wirklich zu realisieren. Ich merkte nur, wie das Publikum inzwischen mucksmäuschenstill war; an leisen Stellen war absolut nichts im Publikum zu hören!
Viel ist schon von jenen Momenten gesagt und geschrieben worden, an denen etwas ganz Besonderes, Magisches, Überwältigendes in einem Opernhaus passiert. Mir war das noch nicht passiert – weil ich noch am Anfang meiner Opernkarriere stehe. Aber jetzt sollte es mich ereilen. Jetzt sollte ich das erleben, ohne nur ein bißchen darauf vorbereitet zu sein.
Ich bin ja erheitert, gut gelaunt und cool in den Abend gegangen – nur nach und nach wurde ich, tatsächlich gegen meinen Willen, in etwas Bewegendes immer tiefer hineingerissen. Ich konnte mich nicht wehren (und wollte es dann auch nicht mehr), die Ergriffenheit stieg immer mehr an, von Aufzug zu Aufzug wie schon gesagt, und dann innerhalb des Dritten Aufzugs: da rissen dann alle Bande, brachen alle Dämme und ich verlor die Kontrolle… Mit einem Male war ich in etwas hineingeraten, mit einem male kam das, was da auf der Bühne und im Orchestergraben passierte, kam das alles wie eine Wand auf mich zu von vorn. Es war wie die Hitzewelle einer Bombenexplosion, die mächtig auf mich zurollte und die über mich schwappte und mich unter sich begrub.
Wie jede gute Welle den armen Menschen hinwegreißt, so auch hier: Ich verlor die Kontrolle. Es fiel über mich her, ich konnte mich nicht entziehen, nicht wehren, alles wurde plötzlich heiß, in mir begann es zu brodeln…
Und dann passierte es: Die großartige Nina Stemme sang in diese sich steigernde Bewegtheit und Ergriffenheit hinein:
„In des Wonnemeeres
wogendem Schwall,
in der Duft-Wellen
tönendem Schall…“
Das waren genau die Worte, die kommen mußten – als hätte Wagner gewußt, was das Publikum an dieser Stelle erwartet und hören will! Genau auf diese Worte läuft alles hinaus; es können nur diese Worte sein. – Des Haltens war nicht mehr.
Doch dann kam ein Schwert angeflogen, direkt auf mich zu, und zerschnitt die letzten Bande der Beherrschung:
„… in des Welt-Atems
wehendem All – “
Und ich zitterte und bebte innerlich wild auf, ein Beben, das in einem Schluchzen Auflösung suchte…
Nun, es ist doch logisch… Was sonst soll eine gute Wagner-, zumal Tristan-Aufführung sein?! Wofür ist Wagner Wagner?… – Doch daß der Meister es so mathematisch vorberechnet hat!… Genau im richtigen Moment hat er zugeschlagen… Wenn man an diese Stelle kommt, dann gibt es keine anderen Metaphern mehr als kosmische. Und während man das noch so fühlt – dann, genau im richtigen Augenblick, spricht der Meister es auch prompt aus: „in des Welt-Atems wehendem All“ – diese und keine anderen Worte müssen es in dem Moment sein. Man hört es schon vorher, man weiß, das das jetzt kommen muß, weil man es schon für sich fühlt… Doch dann, wenn diese Worte tatsächlich kommen, einer Bestätigung gleich, dann brechen die inneren Dämme und man jault und heult auf vor Schmerz…
Hier wird ausgesprochen, hier wird gesungen zu einem machtvollen, überwältigendem Orchesterklang, was wir in den einsamst-vertrautesten und innigsten Augenblicken uns nur andeutungsweise erlauben zu erkennen und zu fühlen: unser Geborensein und Sterben in eine Lavaflut aus dunkler Seele und hellster Liebe hinein…
Und zwischen Geborensein und Sterben gibt es eigentlich das Leben, doch weil dort diese Lava nicht fließt, haben wir diesen großen Schmerz: weil wir das Leben, wie es eigentlich ist, nicht kennen, aber wissen, daß es so sein müßte, weil wir dieser riesigen Seele und dieser unendlichen Liebe normalerweise nicht einmal bewußt sind.
Wagners Musik macht uns diese Liebe und die eigentliche, weite Dimension unseres Lebens wieder bewußt.
Doch dann, in diesem Moment, wußten wir es alle wieder: das ganze Publikum, das am Ende aufschrie, die Sänger, das Orchester, der Dirigent; und wie zur Beruhigung unseres Bebens gab es den Beifall, der kein Ende nahm… Alle waren ergriffen: Herr Gould nahm gerührt die Bravos und etwas überrascht die Begeisterungspfiffe entgegen, Donald Runnicles nahm Frau Stemme, die nicht wußte, wie ihr geschah, so gut hatte sie gesungen, in die Arme…
Es war die totale Einheit zwischen ihr, Runnicles und dem Orchester gewesen! Alles war ab einem bestimmten Moment nur noch in diese Lava eingegangen, von dieser eingeschmolzen worden, alles lief völlig unwillkürlich ohne jede Kontrolle dahin, es hatte sich völlig verselbständigt, und alle taten völlig von alleine, was sie in dieser Lava tun mußten: jeder Geiger, jeder Musiker, der Dirigent und die Sopranistin waren nur noch eine einzige Lava, aus der nichts hervorstach und in der nichts, rein gar nichts mehr nicht zugehörig war. Alles schmolz zu einer großen Welle zusammen und überfiel das Publikum. Alles lief von alleine, die Lava trug sich selbst davon…
Es war eine denkwürdige, tief beeindruckende und unvergeßliche Tristan-Aufführung. Sie fand am 25. Mai 2014 statt. Es war die letzte Aufführung in dieser Saison, wie es auf der Webseite der Deutschen Oper heißt – das heißt, es wird weitere Aufführungen dieser Inszenierung, die am 10. Juni 2011 Premiere hatte, geben – gehen Sie hin!
Wir fuhren lange Zeit schweigend zurück in die Sachsen-Metropole…
*
Ich möchte abschließend noch auf die generell hohe Qualität der Wagner-Inszenierungen der letzten Zeit in Berlin hinweisen, von denen ich den „Holländer“ im Schillertheater unter der Regie von Philipp Stölz und den „Parsifal“ an der Deutschen Oper, ebenfalls in einer Stölz-Inszenierung, sehen durfte. Beide Inszenierungen waren von herausragender Qualität! Es ist ein Jammer, daß es nicht Blurays davon gibt.
Der Besuch einer Wagner-Inszenierung in der deutschen Hauptstadt ist also immer wärmstens zu empfehlen!
In diesem Jahre, genauer gesagt im Oktober 2014, werden wir noch den „Tristan“ in der Berliner Staatsoper (Schillertheater) unter Daniel Barenboim in der Inszenierung von Harry Kupfer (aus dem Jahre 2000) hören und sehen. Die Besetzung wirde sein: Tristan: Peter Seiffert, König Marke: Stephen Milling oder René Pape, Isolde: Waltraud Meier, Kurwenal: Roman Trekel, Melot: Stephen Chambers, Brangäne: Marina Prudenskaya
Ich werde sehr wahrscheinlich einen Bericht darüber schreiben (bitte Newsletter abonnieren).
Fotos von der besprochenen Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin
Nina Stemme
Stephen Gould