Heilige Kuh klassischer Gesang
Wagner-Dramen ohne Opernsänger?
Und ob Ihr der Natur noch seid auf rechter Spur,
das sagt Euch nur, wer nichts weiß von der Tabulatur.
Hans Sachs, Meistersinger von Nürnberg
Ob auf der Leinwand oder auf der Bühne – es ist höchste Zeit, in der Aufführungsarbeit von Wagner-Dramen, insbesondere, was Musik und Gesang betrifft, neue Wege zu gehen. Die Triftigkeit dafür fußt auf folgender Grundüberlegung, die nach und nach ausgearbeitet und vertieft werden wird.
Diese Grundüberlegung besagt: Wagners Gesamtkunstwerk besteht aus Musik, Schauspiel, Bühnenbild, Kostümen, Bühnentechnik. Sämtliche Bestandteile sind, seit des Meisters Tagen, zahlreicher Revisionen unterzogen worden. Sämtliche? – Mitnichten: Die Musik ist – im Vergleich zu den stark voneinander abweichenden Regiearbeiten und bis auf die Unterschiede in der persönlichen Interpretation seitens der Dirigenten, der Musiker und der Sänger – stets gleich geblieben.
Warum ändern sich Musik und Gesang nicht analog zu den ständig vorgenommenen Veränderungen in den Inszenierungen? (Was die Inszenierung angeht, so ist selbst die heilige Kuhe Parsifal sogar in Bayreuth schon 1934 von Heinz Tietjen geschlachtet worden.)
Die Bestandteile des Gesamtkunstwerks mögen verschieden gewertet und gewichtet werden, und es besteht unter ihnen sicher eine Hierarchie mit dem Primat der Musik – aber warum soll diese eine heilige Kuh sein? Doch genau das ist sie. Erst im Programmheft der Staatsoper Berlin für die Jahre 2014/2015 wieder sagt der Intendant der Staatsoper, Jürgen Flimm: „Die musikalischen Parameter sind wie ein Zaun, den man nicht überschreiten kann.“(1)
Originalpartitur und Orchestrierung sind genial und in den 150 Jahren Aufführungspraxis sehr wohlbegründet unverändet geblieben, und es bedarf einer echten und tiefen Überzeugung, davon abzuweichen und Änderungen in der musikalischen Gestaltung (Instrumentarium etc.) vorzunehmen.
Es liegt aber dennoch auf der Hand, daß auch im musikalischen Bestandteil des Gesamtkunstwerks besagte neue Wege beschritten werden sollten. Welche das im einzelnen sein könnten, das werden wir – auch in verstärkter Zusammenarbeit mit Fachleuten – in Zukunft ausführen.
Ein erster Hinweis dazu betrifft den Gesang. Dem traditionellen Opern- oder überhaupt dem klassischen Gesang soll auf keiner Weise die Legitimität abgesprochen werden. Zu schön, Helen Donath die Eva und Karl Ridderbusch den Pogner in den Meistersingern singen hören zu dürfen! Wir wissen um Leistung und Wert von Spezialisten! Aber es sollte vorstellbar sein, daß es nebenher auch Wagner-Inszenierungen gibt, in denen eine andere Art Gesang gepflegt wird, die mehr vom volksmusikalischen und populären Gesang, vom Rock-Gesang oder auch vom Musical-Gesang inspiriert sein wird.
Die Gründe hierzu liegen in der somit gegebenen Chance auf höhere Verständlichkeit des Textes – wichtiger Aspekt! –, aber auch in mehr Echtheit der Darbietung – ein noch wichtigerer Aspekt! Dem Ideal der Lebensnähe (der „Unwillkürlichkeit“) könnte durch einen „normalen“, volkstümlichen, nicht-klassischen Gesang näher gekommen werden (vergl. Teil II des Manifestes der Post-Musik: Wagners künstlerische Mittel zum Zwecke).
Wagner kritisierte die damalige Opernpraxis aus den gleichen Gründen. Daß wir hier durchaus im Sinne des Meisters handeln wollen, dazu sei Egon Voss zitiert: „Wagner ging es, pointiert gesagt, nicht um das Singen und nicht um die Kunste des Gesangs, wie sie die traditionelle Oper sweinter Zeit kennzeichneten, sondern um den Text. Auf ihn nahm die herkömmliche Oper nach seiner Ansicht zu wenig Rücksicht. Darum sollte die Komposition so angelegt sein, daß sie die Verständlichkeit des Textes für den Zuhörer garantiert. Wagner ist auch nie müde geworden, von seinen Sängern vor allem deutliche Aussprache zu verlangen.“(2)
Auf die Qualität dieses neuen Gesangs und der Sänger wird strengstens geachtet werden. Und vor allem wird es von vorn herein auf die Auswahl der Sängerinnen und Sänger drauf ankommen! Es müssen Naturtalente gefunden werden, die sich mit der Rolle voll identifizieren können und aus der tiefen Identifikation heraus ihren Part richtig singen und diesem eine ganz besondere, umwerfende Qualität verleihen!
Es ist Zeit, eine heilige Kuh zu schlachten, eine Revision vorzunehmen. Einer der eklatantesten Widersprüche des Meisters ist, daß er dem Kunstgesang eine übergroße Bedeutung beigemessen hat. Er verfolgte lange Zeit gar das Ziel, eine nationale Akademie für bessere Schulung des künstlerischen Personals zu gründen. Oft genug war mit dem vorhandenen Sängerpotential sehr unzufrieden – um dann andererseits in manische Begeisterung über manche Sänger zu geraten (Ludwig Schnorr von Carolsfeld als Tristan). Man kann nicht die ganze Zeit von „unwillkürlich“, „natürlich“ und „echt“ reden (siehe Manifest, Teil 2) und dann die totale Überzüchtung des Gesang betreiben.
Wir müssen an dieser Stelle zugeben, daß wir verunsichert sind. Es wird auch auf Versuche mit Laien- und Musical- bzw. Rocksängern drauf ankommen. Ggf. werden wir doch auf klassisch ausgebildete Kunstsänger zurückkommen, weil die Parts teilweise sehr schwer zu singen sind. Vielleicht wird es das beste sein, klassisch ausgebildete Sänger zun entzüchten.
Wir möchten auf keinen Fall die traditionelle Meisterschaft angreifen, sie soll geachtet werden und unangetastet bleiben. Aber ein Versuch, Wagner-Opern mit unausgebildeten Naturtalenten aufzuführen, soll es wert sein! Wir versprechen uns eine noch viel größere Wirkung, wenn der Gesang „normaler“, ungekünstelter und wirklich natürlich ist.
Ich denke, geeignet für einen ersten Versuch ist der Holländer.
(1) Zerstört das Regietheater die Oper? Gespräch zwischen Arnt Cobbers, Hans Neuenfels, Isabel Ostermann, Philipp Stölz und Michael Thalheimer, S. 97
(2) Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen, Textbuch mit Varianten der Partitur, herausgegeben und kommentiert von Egon Voss, Stuttgart 2009, S. 480/481